Uni Wien:Philosophie der Gegenwart: Phänomenologie und Dialogphilosophie VO (Baier)/Argumente für diese LV

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Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Autor: Francisco Varela
  • Originaltitel: Cognitive Science. A Cartography of Current Ideas
  • Erscheinungsjahr: 1988

Text-Ausschnitt aus dem deutschen Vorwort[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

von S.J. Schmidt, (erschienen im Suhrkamp-Verlag, F.a.M. 1990)


"Die Kognitionswissenschaft, verstanden als Gesamtheit naturwissenschaftlicher Analysen von Erkennen und Wissen in allen Dimensionen und Funktionsweisen, haben in den vierzig Jahren ihres Bestehens theoretisches wie praktisches Interesse weit über wissenschaftliche Grenzen hinaus gefunden. Experten halte sie für die bedeutendste theoretische und technische Revolution seit der Atomphysik mit unabsehbaren Folgewirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung dieses wie kommender Jahrhunderte. Ihre Wirksamkeit liegt vor allem darin, dass Wissenschaft und Technik hier eine auch von außen unübersehbare enge Wechselbeziehung eingegangen sind. Mit der Entstehung der Kognitionswissenschaften haben sich gesellschaftliche Problemfelder wie Information, Kommunikation, Wissen, Datenverarbeitung oder Robotik revolutionär verändert bzw. neu installiert. Trotz ihrer theoretischen Ergiebigkeit und praktischen Effizienz aber sind die Kogntionswissenschaften und Kognitionstechniken bis heute noch keien etablierte reife Naturwissenschaft, sondern eher ein multidisziplinäres dynamisches Forschungsfeld, in dem sich disziplinäre Ansätze überschneiden und gegenseitig beeinflussen.


In dieser Situation ist jeder Versuch einer historischen und systematischen "Terrainsondierung" zu begrüßen. Das gilt um so mehr, wenn es sich dabei um einen Versuch handelt, die historischen Konstitutionsbedingungen der Kognitionswissenschaften daraufhin zu prüfen, welche unbefragten theoretischen Modellvorstellungen und Präsuppositionen sie enthalten und wie diese Implikationen sich auf Problemstellungen und Problemlösungen in diesem Feld auswirken. Einen engagierten Versuch dieser Art stellt der vorliegende Essay Francisco Varelas dar. Varela stellt sich nicht nur die Aufgabe, eine Art "Röntgenaufnahme" des aktuellen STandes der Kognitionswissenschaften vor dem Hintergrund ihrer Entwicklungsstadien in den letzten 40 Jahren zu geben. Er versucht darüber hinaus, die bis heute von den USA dominierte kognitionswissenschaftliche Orthodoxie kritisch zu durchleuchten und theoretisch zu bereichern durch Rückgriffe auf europäische Wissenschaftstraditionen, insbesondere solcher aus dem Umkreis der Phänomenologie Husserls und Merlau-Pontys und der Entwicklungspsychologie Jean Pieagets. Ein Spezifikum dieses Versuches liegt darin, dass er Kognitionswissenschaften und Kognitionstechniken nicht voneinander trennt, sondern davon ausgeht, dass Vitalität und Zukunfspotential dieses Forschugnsbereiches erst dann in den Blick kommen, wenn man den Grundlagenaspekt mit den technischen Aspekten zusammen zieht."

Das Problem des Problemlösens[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

"Die Grundannahme der Kognitionswissenschaft und Kognitionstechnik (KWT) ist seit jeher gewesen, dass die Welt in Bereiche aufgeteilt werden kann: in Bereiche von diskreten Elementen und Aufgaben, mit denen sich das kognitive System beschäftigt, das in einem gegebenen Raum von Problemen handelt, etwa im Raum des Sehens, der Sprache, der Bewegung. Es ist relativ leicht, den "Bereich Schach" zu definieren: er mufasst alle möglichen Zustände im Raum des Schachspiels. Es gibt Figuren und Stellungen auf dem Schachbrett, es gibt Regeln für Züge und Zugwechsel, es gibt klare Grenzbedingungen. Die "Schachwelt" ist fast wie ein Kristall. Es gibt daher große Fortschritte im Computerschach, und das ist inzwischen auch weithin bekannt. Im Gegensatz dazu hat es sich als ziemlich unproduktiv erwiesen, diese Art von Ansatz zum Beispiel im Bereich mobiler Roboter anzuwenden. Natürlich kann man auch hier einzelne Elemente ausgrenzen (z.B. Stahlrahmen, Räder und Fenster für ein Fertigungsband in der Autoproduktion), es ist jedoch ebenso klar, dass die Welt des Schachspiels präzise an einem bestimmten Punkt endet, und dass die Welt der Bewegung von Gegenständen dies nicht tut. Sie verlangt ständige Nutzung unseres gesunden Menschenverstandes, um die Welt unserer Gegenstände überhaupt zusammenzubauen. Sollen wir denn in die Welt des Autofahrens etwa die Fußgänger miteinbeziehen? Es ist unmittelbar klar, dass die Antwort auf diese Frage nur aus einem außerordentlich diffusen Hintergrund von Überlegungen abgeleitet werden kann, die wir alle als unweigerlich kontextuell betrachten: wo sich jemand befindet, wieviel Uhr es ist, welche Art von Straße man befährt usw. Im Gegensatz zu unserem Schachbereich gleicht der Autofahrbereich viel eher einem sich immer weiter differenzierenden fraktalen Raum möglicher Einzelheiten als einem präzise definierten Kristall [1]. Die Bedeutung eines Wortes in einer natürlichen Sprache ist vielleicht ein gutes Beispiel für alle die Gegenstände, die in unserer natürlichen Welt vorkommen: man muss die gesamte Sprache kennen, um die vielfältigen Bedeutungen eines Einzelwortes zu verstehen, und dieses Verständnis beeinflusst umgekehrt wiederum die Bedeutung aller anderen Wörter. Die Kategorisierung irgendeines Aspektes unserer natürlichen Lebenswelt lässt keine scharfen Grenzen zu sie lässt sich nicht als ein Bereich darstellen, der durch eine Karte abgebildet werden kann.


In der Tat dämmerte es vielen Forschern im Bereich der Künstlichen Intelligenz gegen Ende der 70er Jahre, also nach 2 Jahrzehnten mit deprimiernd geringen Fortschritten, dass sogar die simpelste kognitive Handlung einen anscheinend unendlich großen Betrag an Wissen erfordert, den wir gewöhnlich stillschweigend voraussetzen (also für so selbstverständlich halten, dass er praktisch unsichtbar und unbeachtet bleibt), der jedoch jedem Computer löffelweise eingeflößt werden muss. Wie ich schon vorhin sagte, ist unser Idealbild nunmehr das völlig anspruchslose Kind, das lernt, sich zu bewegen und zu sprechen. In den frühen 60er Jahren wurde die Forschung von den Hoffnungen der Kognitivisten beflügelt, einen allgemeinen Problemlöser zu schaffen, d.h. eine logische Maschine, die jegliches nur denkbare Problem lösen konnte. Schritt für Schritt und mit zunehmender Selbstbescheidung musste dieser frühe Traum auf streng lokal beschränkte Wissensbereiche zurückgestutzt werden, in dem wohldefinierte Probleme gelöst werden können, und ein Programmierer der Maschine soviel an eigenem Hintergrundwissen eingeben konnte, wie sich handhaben ließ. So kannte man z.B. ein Expertensystem nur für Flugreservierungen herstellen. In ähnlicher Weise hängt die konnektionistische Konzeption davon ab, ob die Arten möglicher Attraktoren eingeschränkt werden können, und zwar mithilfe von Annahmen über bekannte Eigenschaften der Welt, die als zusätzliche Regeln in das Programm eingegliedert werden. In beiden Fällen wird die nicht beherrschbare Vieldeutigkeit des Hintergrundwissens, also des gesunden Menschenverstandes, an der Peripherie der Forschung belassen, denn man hofft, dass dieses Wissen irgendwann in Zukunft erklärt und beherrscht werden kann.


Die hiermit angesprochene Problematik ist in der Philosophie seit langem eingehend bearbeitet worden. Die Phänomenologen haben in tiefschürfenden Detailanalysen gezeigt, dass Wissen damit zu tun hat, dass wir in einer Welt leben, die untrennbar ist von unserem Körper, unserer Sprache und unserer gesellschaftlichen Geschichte [2] . Wissen ist folglich ein ständig ablaufender Verstehens- bzw. Interpretationsprozess, der nicht in irgendeiner angemessenen Weise als Menge von Regeln udn Annahmen eingefangen werden kann, da er von Handeln und Geschichte abhängig ist, und da man in ihn nur durch Nachahmung und aktive Mitgliedschaft hineinwachsen kann. Wir können uns nicht außerhalb der Welt begeben, in der wir uns vorfinden, um zu sehen, wie deren Inhalte mit ihren Repräsentationen oder Abbildungen übereinstimmen: wir finden uns stets in eine Welt eingebunden, in diese Welt hineingeworfen. Bestimmt man nämlich mentale Tätigkeit als Regelanwendung und Symbole als Repräsentationen, dann lässt man stets die eigentliche Quelle der vitalen Dynamik aller Kognition aus dem Gesichtsfeld verschwinden. Eine solche Sicht ist nur sinnvoll in einem äußerst beschränkten Rahmen, in dem fast alles übrige konstant gehalten wird (in der Philosophie spricht man von einer "ceteris-paribus"-Situation). Handlungszusammenhang und alltägliches Wissen sind keine Artefakte von bloß marginaler Bedeutung, die schrittweise durch die Erfindung immer komplizierterer Regeln eliminiert werden können. Sie sind die eigentlichen Grundlagen aller kreativen Kogniton.


Wenn diese Kritik zutrifft, dann folgt daraus, dass es keinen Fortschritt in der Erklärung kognitiver Prozesse in normalen (nicht nur in höchst eingeschränkten) Umgebungen geben wird, wenn wir nicht von einer anderen Basis ausgehen als der, dass dadurch eine Außenwelt abgebildet bzw. repräsentiert werden muss.

  1. vgl. P. Biere, "The Professor's challenge", AI Magazine, Winter 1985, 60-70
  2. Die wichtigsten Autoren, auf die ich mir hier beziehe, sind Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty und Michel Foucault, Vgl. auch Hubert Dreyfus, Why Computers Can't Think, Macmillan/The Free Press 1984